Probleme der Risikoabschätzung
Dass die Kombinationswirkung von Pestiziden unberücksichtigt bleibt, ist möglicherweise das größte Manko der derzeitigen Modelle zur Risikobewertung von Pestizidrückständen.
Doch kämpft die Risikoabschätzung noch mit anderen Schwierigkeiten:
• Für manche Krebs erregende Stoffe gibt es keine ungefährliche Dosis. Die Annahme, dass es eine akzeptable Aufnahmemenge gibt, unterhalb der keine Wirkung auftritt, trifft auf zahlreiche Krebs erregende Stoffe nicht zu; etwa auf Stoffe, die in der Lage sind, das Erbgut zu verändern. Hier birgt jede Belastung ein gewisses Krebsrisiko.
• Tier und Mensch reagieren unterschiedlich auf Giftstoffe.
Das Mesotheliom — eine an sich äußerst seltene Form von Brustfellkrebs — wird durch Asbest verursacht. Noch heute sterben jährlich tausende Europäer daran. Im Durchschnitt vergehen zwischen dem Kontakt mit Asbest und dem Auftreten der Krebserkrankung 30 bis 40 Jahre. Dass bei Ratten durch Asbest Mesotheliome nicht bzw. nur äußerst schwer ausgelöst werden konnten, trug dazu bei, dass das Verbot von Asbest jahrzehntelang hinausgezögert werden konnte.
• Langzeiteffekte werden im Tierversuch schwer erfasst, zumal Versuchsdauer bzw. Lebensspanne der Versuchstiere nicht mit der des Menschen vergleichbar ist.
Zwischen auslösendem Ereignis und erstem Auftreten von Symptomen können etwa bei Krebs Jahrzehnte liegen. Ein Fütterungsversuch an Mäusen zur Ermittlung der chronischen Toxizität — also der Langzeitwirkungen von Pestiziden — dauert im Vergleich dazu nur ein bis zwei Jahre.
• Die höhere Empfindlichkeit von Kindern wird nicht ausreichend berücksichtigt.
Der ADI und auch die ARfD beziehen sich auf das Körpergewicht. Allein diese Tatsache bedingt, dass Kinder empfindlicher auf Schadstoffbelastungen reagieren als Erwachsene. Die WHO stellte 2002 fest: „Kinder unter 10 Jahren sind am empfänglichsten für Erkrankungen, die durch Lebensmittel und Trinkwasser verursacht werden. Zu den möglichen Gesundheitsauswirkungen von Pestizidrückständen und Chemikalien aus Umwelt, Nahrung und Trinkwasser zählen Störungen des Immunsystems, hormonelle Störungen, neurologische Störungen und Krebs.“
Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Der sich entwickelnde Organismus ist um vieles verwundbarer. Eine Studie im Auftrag der niederländischen Gesundheitsbehörden untersuchte 2004 das besondere Risiko für Kinder, welches von Pestizidrückständen in Lebensmitteln aus geht, und stellte fest:
— Bezogen auf ihr Körpergewicht nehmen Kinder über die Nahrung, die Haut und die Atemwege größere Mengen Pestizide auf als Erwachsene.
— Der Magen-Darm-Trakt von Kleinkindern ist noch nicht voll ausgereift, so gelangen manche Schadstoffe leichter in den Organismus.
— Föten und Neugeborene verfügen noch nicht über ein ausgebildetes Enzymsystem, um chemische Stoffe umzuwandeln. Abbau und Ausscheidung von Giftstoffen erfolgen daher langsamer.
Die Wissenschafter empfehlen daher die Einführung eines zusätzlichen Unsicherheitsfaktors für die Ermittlung von ADI und ARfD, damit auch die besondere Empfindlichkeit von Kindern Berücksichtigung findet.